Architekten in Venedig

Architekten in Venedig

Kolumne von Eike Becker, "Immobilienwirtschaft" 07/2016

Wenn wir Architekten das Schicksal dieser Welt zum Besseren wenden wollen, müssen wir uns mehr einmischen. Sonst bleibt allzu vieles im kleinen, beschaulichen, biedermeierlich romantischen Kontext stecken.

Während der Fahrt mit dem Vaporetto der Sonne und der Silhouette der Inselstadt entgegen, spritzt die Gischt rechts und links und bläst der Fahrtwind jeden Gedanken an ein Gestern davon. Plötzlich Rialtobrücke, Venedig. Die sinkende Stadt der Dogen und Touristen. Diese modrige Hinterlassenschaft stolzer Kaufleute aus einer Zeit vor der Entdeckung Amerikas überwältigt, fasziniert, erstrahlt und glitzert bei jedem Besuch von Neuem. La Serenissima, die Weltstadt der Weltstädte, Heimat von Tizian, Casanova, Vivaldi und Marco Polo, Erfinderin der Gondeln und Biennalen, ist der Sehnsuchtsort aller Künstler, Liebespaare und Architekten.

La Biennale di Venezia ist seit 1895 die älteste Kunst-Biennale überhaupt.

Seit 1980 gibt es das Ganze auch als Architektur-Ausgabe. Ein Riesending, ein Monster, die wichtigste Ausstellung für Architekten überhaupt. Hier wird unser Selbstverständnis immer wieder neu verhandelt, in diesem Jahr zum 15. Mal.

Unter dem Titel „Reporting from the Front“ hat der Kommissar Alejandro Aravena über 80 Architekten aus 37 Nationen eingeladen, ihre gesellschaftlich relevanten Fragen aufzuzeigen. Alejandro hat einen Lauf, hat in diesem Jahr auch den Pritzker-Preis, den Nobel-Preis für Architektur, erhalten. „Der Titel weckt kolossale Erwartungen. Dass es eine Biennale der Armen, der Katastrophen und der Krisen wird“, sagt er. Ein Anspruch, hoch wie ein Wolkenkratzer. Der wird noch von Paolo Baratta, dem Präsidenten der Biennale, getoppt: „Nach dieser Biennale wird nichts mehr so sein wie zuvor.“ Bereits seit Jahren bewegen sich die Ausstellungen weg von der Stararchitektenarchitektur. Auch die Kommissare Kazuyo Sejima (People meet in architecture, 2010) und David Chipperfield (Common ground, 2012) haben Fragen des Gemeinwohls in den Vordergrund gestellt. Was Aravena in diesem Jahr ausstellt, ist für alle etwas, vor allem viel. Im Arsenale dürfen die meisten ausstellenden Architekten das zeigen, was ihnen wichtig ist.

Die älteren Heroen, wie zum Beispiel Tadao Ando, Peter Zumthor oder Herzog & de Meuron, rufen ganz gemütlich aus der Vergangenheit herüber an die Front und feiern dabei vor allem sich selbst. Norman Foster zum Beispiel hat eine Foundation, und die hat eine Backsteinkuppel als Drohnenflughafen für die Front in Südafrika hochgemauert. Unter dem Titel „Daily Design, Daily Tao“ lädt China in ein Holzhaus mit Favela Garten zum Meditieren ein – während des Urlaubs von der Front sozusagen. Im Hauptpavillon zeigt der Kommissar eine handgefertigte Bogenkonstruktion aus Backstein, die dann auch – Gratulation nach Paraguay – mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnet wird.

Arno Brandlhuber ärgert sich über Bauvorschriften und beneidet Luigi Snozzi, der in seinem Bergdorf Monte Carasso allein entscheiden kann, was gebaut wird. Richard Rogers empfiehlt, die Städte vom Zentrum aus zu entwickeln (von wo sonst?), und stapelt, wie bereits in den 60er Jahren, gut gelaunt bunte Container aufeinander. Die Länderpavillons in den Giardini machen mehr oder weniger ihr eigenes Programm. Ganz in der Tradition des Biedermeier geht es in England um Wohnungen für Jahre, Monate, Tage und Stunden (wen interessiert schon der Wohnungskrieg der Spekulanten gegen den Rest der Gesellschaft in London?). Australien hängt ab an einem 20 Zentimeter tiefen Swimmingpool (Danger! Shallow Water). Japan zeigt mal wieder die liebevoll geklebten Modellhäuser für gemeinschaftliches Wohnen, winzig kleine Beispiele höchster Ansprüche.

Zusammen mit dem Berliner Architekturbüro Something Fantastic hat das Deutsche Architektur Museum den Pavillon der Deutschen ruiniert, also aufgebrochen und mit großen Öffnungen versehen. Ein Bild für die offene Gesellschaft, die wir ja auch für ein paar Monate waren. Für eine Gesellschaft, die für Ankömmlinge Heimat werden möchte und die sich an ihrer Nazipavillon-Vergangenheit (Baujahr 1938) immer wieder abarbeitet. Und die von dem ungläubig staunenden internationalen Publikum selten verstanden wird.

Das ist wohl auch der vorrangig lateinamerikanischen Jury so gegangen. Sie hat lieber dem Spanischen Pavillon den Goldenen Löwen gegeben und sich damit eindeutig für eine architektonisch fein ausgearbeitete Lösung und gegen die großen gesellschaftlichen Fragen ausgesprochen. Nach zwei Tagen bin ich müde gelesen, gesehen, gebadet, gelaufen, eröffnet, gefeiert. Und plötzlich wütend. Wütend über meine eigene Zunft. Wütend auf diese Ausstellung! Wenn Architekten sich mit den Frontverläufen dieser Welt beschäftigen, mit den schreienden gesellschaftlichen und politischen Ungerechtigkeiten, mit der brüllenden Armut, den brutalen Kriegen, Flucht und Vertreibung, aber auch mit dem städtischen Elend, zeigt sich, dass ihre Werkzeuge, ihre Strategien, ihr Wissen, ihre Wut, ihr Einfluss und ihre Macht nicht ausreichen, um über ihren eigenen Kontext hinaus Fortschritt zu erzeugen.

Die Ausstellung stellt hochpolitische Fragen, aber scheitert allzu häufig mit ihren rein architektonischen Antworten. Nach allen Vorträgen und Eröffnungsfeierlichkeiten treffe ich spät in der Nacht Patrik Schumacher, meinen Studienfreund, den langjährigen Partner der verstorbenen größten Architektin, Zaha Hadid. Er fordert, die Ausstellung zu schließen. Architekten sollten sich mit Hochkulturarchitektur beschäftigen. Damit haben sie schon genug zu tun. Für ihn sind Elendsviertel keine Aufgabe für ausgebildete Architekten. Infrastruktur einbringen können Ingenieure besser. Damit formuliert er das Denkmodell vieler so genannter Stararchitekten. Suche dir die reichsten Bauherren auf der Welt und baue die schönste Oper, das größte Museum oder das höchste Hochhaus, so gut sie dich lassen. Und da haben wir den tatsächlichen Frontverlauf in der zeitgenössischen Architektur: solitäre Meisterleistungen versus gesellschaftliche Verantwortung.

Doch beide Positionen treffen für sich allein nicht den Kern des Problems. Beide sind selbstgerecht und protzig. Wie kann man einerseits davon ausgehen, dass für Millionen Architekten und Milliarden Menschen auf der Welt einzig und allein die Opernhäuser, Sportstadien und Skischanzen kulturell relevant sind? Und wie kann man andererseits überhaupt auf die Idee kommen, dass diese komplexen Probleme von Architekten allein gelöst werden können?

Was macht Gesellschaften erfolgreich?

Wie wird Wohlstand auf der Welt gerechter verteilt? Wie werden Slums zu qualitätvollen Quartieren? Wie geht bezahlbarer Wohnraum? Wie entstehen durchmischte und für alle offene Städte? Architektur ist alles, was uns umgibt, und ist die Welt, die wir uns schaffen. Zur Initiation und Moderation dieser Fragen ist deshalb kaum eine Profession besser qualifiziert.

Doch wenn wir Architekten das Schicksal dieser Welt wirklich zum Besseren wenden wollen, müssen wir raus aus unserem Silo, aus unserer Komfortzone. Wir müssen teilen lernen und uns für ein neues Verständnis, ein neues Bild unseres Berufes öffnen. Wir müssen uns viel stärker einmischen und mit den Engagierten aus anderen Disziplinen vor Ort gemeinsam Lösungswege finden. Wenn das nicht geschieht, wie in Venedig gerade vorgeführt, bleibt allzu vieles im kleinen, beschaulichen, biedermeierlich romantischen Kontext stecken.