China

China

Kolumne von Eike Becker, "Immobilienwirtschaft" 09/2017

Machen wir uns handlungsunfähig durch Rechtsvorschriften, lückenloses Streben nach Gerechtigkeit und Sicherheit? Werden wir durch unsere Ansprüche immer langsamer? Werden wir abgehängt?

Wir landeten 1995 zwischen den Hochhäusern in Kai Tak, mitten in der Stadt. Victoria Harbour war noch dicht befahren von Dschunken und Ozeanriesen. Die Bank of
China von I. M. Pei hatte zwar Probleme mit dem Feng Shui, konnte aber gerade mit Eleganz und 367 Metern Höhe der HSBC – dem damals teuersten Gebäude der Welt von Norman Foster – den Rang des spektakulärsten Hauses von Hongkong abnehmen. Ich war begeistert von dieser so dynamischen Stadt, die Europa und Asien in sich zu vereinen schien. Zwischenzeitlich mussten die Briten ihre ehemalige Kronkolonie verlassen und China hat übernommen. Ein Land, zwei Systeme. Das war 1997.

20 Jahre später steige ich im Provisorium von Schönefeld ins Flugzeug und lande zwölf Stunden später auf dem Flughafen Chek Lap Kok, der nach acht Jahren Bauzeit 1998 eröffnete. Im Jahr 2016 erzielte er ein Passagieraufkommen von über 70 Millionen (Frankfurt a. M. 60 Millionen). Schon aus dem Flugzeug beobachte ich hunderte von Sandlastkähnen, die für die nächste Landebahn die Insel erweitern. Der Airport Express bringt uns in 25 Minuten direkt vom Terminal nach Central (in München dauert das seit 40 Jahren über eine Stunde). Im Vorbeifahren sehe ich die neue 70 Kilometer lange Brücke über das Perlfluss-Delta nach Macao, dem Las Vegas Asiens. Bauzeit sieben Jahre.

Alles ist viel dichter, höher, größer geworden. Seit 2010 ist das ICC mit 484 Metern das höchste Haus der Stadt. Hongkong ist heute die Stadt mit den meisten Hochhäusern überhaupt. 1.300 davon sind über 140 m hoch. Fast doppelt so viele wie in New York. Frankfurt hat 18, ganz Deutschland insgesamt 25. Der Dimensionssprung ist enorm. Hongkong hat so viele Einwohner wie die vier größten deutschen Städte Berlin, Hamburg, München und Köln zusammen (7,3 Millionen). Zusammengenommen leben im Perlfluss-Delta heute vermutlich 60 Millionen Menschen auf einer Fläche gerade so groß wie Niedersachsen.

Hongkong kann heute nur mit China zusammen verstanden werden. 15 Städte zählen dort schon zehn Millionen und mehr Einwohner. 1,4 Milliarden Chinesen. Das sind mehr Einwohner als Nordamerika, Europa und Russland zusammen. In einem Staat, zentral gelenkt. Der Urbanisierungsgrad Chinas lag 1990 bei 26 Prozent, heute leben bereits etwa 55 Prozent der Chinesen in Städten. Und die mussten im selben Zeitraum gebaut werden. Als Deng Xiaoping 1979 die Sonderwirtschaftszone um Hongkong ausrief, exportierte die chinesische Wirtschaft im Jahr so viel wie heute in sechs Stunden.

ZURÜCK IN DEUTSCHLAND

beherrschen andere Schlagzeilen die Medien. Der neue Berliner Flughafen, die Elbphilharmonie, die Staatsoper sind keine Einzelfälle. Bauen dauert in Deutschland schleppend lange, Entscheidungen werden sorgfältig abgewogen, manchmal hinausgezögert, Baurecht muss den verantwortlichen
Institutionen im Laufe von langwierigen Verfahren mühsam abgerungen werden. Wer Bauvorhaben in Deutschland zügig und kostengünstig oder auf besondere Weise durchführen möchte, läuft schnell auf Grund. Allgemein gültige Gesetze fördern die ausgewogenen Mittelpositionen. Die Genehmigungsverfahren sind kompliziert und anspruchsvoll. Tausende von Standards und Normen regeln fast alles, innovative Lösungen tun sich damit schwer. Machen wir uns also handlungsunfähig durch zu viele Rechtsvorschriften, lückenloses Streben nach Gerechtigkeit, Sicherheit und Dauerhaftigkeit? Werden wir durch immer höhere Ansprüche an das, was wir tun, und das Streben nach Perfektion immer langsamer? Werden wir dadurch abgehängt?

WARUM IST DAS IN CHINA SO ANDERS?

Nach Maos Tod 1976 war China ein hungerndes, bitterarmes Agrarland. Eine Gruppe um Deng Xiaoping brachte dann das Land auf den Weg zur „sozialistischen Marktwirtschaft“. Sonderwirtschaftszonen wurden eingerichtet und die Bauern durften auf eigene Rechnung wirtschaften. Chinas Wirtschaft gehört seitdem zu den am schnellsten wachsenden der Welt. Das Land hat bis heute und auf Jahre hinaus einen riesigen Nachholbedarf. Heute herrscht dort eine Stimmung wie in den USA zur Zeit des Wilden Westens. Alles wird gebraucht, muss aufgebaut und ausgebaut werden. Mit allem kann Geld verdient werden. Auch in Deutschland kennen wir das aus den Wirtschaftswunderjahren der Nachkriegszeit. So lange ist das noch nicht her.

ABER: WAS IST ANDERS?

Hosea Duan ist ein 36-jähriger Projektentwickler, der in Shenzhen vor seinem gerade fertiggestellten Hochhauskomplex steht. Mit stolz verschränkten Armen fragt er mich, was er besser machen kann. Vor so viel naivem Selbstbewusstsein fällt mir die enttäuschende Antwort schwer. Er hat genau die gleichen Fehler gemacht wie die deutschen Wohnungsbaugesellschaften in den Aufbaujahren. Ganze Stadtteile sind da zusammengeschustert worden, die nicht wirklich für die Menschen gemacht sind, die dort gemeinsam mit Nachbarn ihr Leben teilen wollen. Fehler, die wir heute gerade aufwändig zu beheben versuchen.

Rückständigkeit und Ideenlosigkeit sind zwar die sichtbaren Ergebnisse seiner Arbeit, aber nicht das eigentliche Problem. Etwas ist in China grundsätzlich anders: China ist kein Rechtsstaat. Das Land leidet unter einer korrupten Einparteiendiktatur. Hosea Duan musste auf dem Weg zu seinem schnellen Reichtum die
örtlichen Parteikader bestechen, damit er das Grundstück bekam, Mitarbeiter in den Behörden bestechen, um die Baugenehmigung zu erhalten. Da bleibt keine Zeit für einen Wettbewerb als Qualifizierung für sein Projekt. Er musste Beamte bestechen, um die dort in historischen Häusern lebenden Anwohner zu enteignen
und zu vertreiben. Die konnten sich gegen die korrupten Parteifunktionäre nicht wehren. In den Redaktionen der Zeitungen sitzen Zensoren, das Internet ist kontrolliert. Ich frage mich, was eigentlich Hosea Duan passiert, wenn er aus dem Korruptionskreislauf aussteigt oder ein Funktionär sein Unternehmen gleich
ganz übernehmen möchte? Hosea Duan will jetzt auch in Kanada investieren.

UND WAS BEDEUTET DAS FÜR DEUTSCHLAND?

Viele beschweren sich heute in Deutschland über die langsamen Ämter und die langen Entscheidungswege bis zum Baurecht. Zumeist sind hier die Behörden personell unterbesetzt, unterbezahlt und technisch nicht angemessen ausgestattet. Ein Skandal, wie achtlos hierzulande die
so wichtigen Institutionen behandelt werden. Und in den politischen Ausschüssen und Parlamenten sitzen häufig Laien, die sich im Parteienstreit verfransen und nicht sachorientiert handeln. Da besteht Reformbedarf. Thema: die bauende Demokratie.

Aber in einem Rechtsstaat ist der Weg zu einer Bauvoranfrage, einem Bauantrag oder einem Bebauungsplan genau vorgeschrieben. Abweichungen davon beeinträchtigen die Rechte Dritter, die ihr Recht einklagen können. Da ist viel Wissen und Sorgfalt erforderlich.

Gute Architektur und nachhaltiger Städtebau sind in der Regel das Ergebnis umfangreicher Diskussionen und Abstimmungsprozesse. Nicht die schnellen, einsamen Entscheidungen kleiner Cliquen sind langfristig erfolgreich, sondern die Strukturen, die faire, gleiche und offene Beteiligung regeln und zu nachhaltigen Entscheidungen, guter Architektur und langfristig lebenswerten Städten führen. Das sind die Errungenschaften, die für Gesellschaften so schwer zu erreichen sind und ein extrem hohes Gut darstellen. Diktaturen können dagegen nicht dauerhaft kreativ und nachhaltig sein.