Die ideale Stadt

Die ideale Stadt

Kolumne von Eike Becker, "Immobilienwirtschaft" 06/2016

Wenn die Gesellschaft in Ordnung ist, dann werden auch die Städte in Ordnung sein. Stadt und Gesellschaft sind miteinander verwoben.

Nach fünf Stunden Flug finde ich mich in den dichten Gassen der Medina, der historischen Altstadt von Marrakesch, wieder. Plötzlich Tausendundeine Nacht. Die überwältigende Dichte der fremden, lebensgegerbten Gesichter, eine schier endlose Zahl winziger Läden, einer neben dem anderen, angefüllt mit lokalem Kunsthandwerk, Teppichen, Keramik, Holzschnitzereien und Schmuck, bilden ein eng geknüpftes Abbild menschlichen Miteinanders. In dem Strom der Passanten gelange ich zum Djemaa el Fna, dem weltberühmten Marktplatz der Marktplätze, ein „Meisterwerk des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“, voller Gaukler, Musiker, Geschichtenerzähler, Schlangenbeschwörer, Affenbesitzer, Kartenlegerinnen, Tätowiererinnen, Händler, Bettler, Einheimischer und Touristen. Heute wie vor hundert Jahren.

So abwechslungsreich bevölkert wünschen sich nordeuropäische Planer ihre Städte! Ein Guide führt uns durch ein Gewirr winziger, lärmender, vor Menschen wogender Gassen zu einer stahlbewehrten, jahrhundertealten Holztür. Auf der anderen Seite heißen uns kühler Limonengeruch und die schöne Binta willkommen. Plötzlich diese Ruhe. Sie zeigt uns das winzige Anwesen um drei jeweils zweigeschossige Höfe, alle Fenster sind nach innen gerichtet, die fruchtigen Bananenbäume und das Plätschern der Brunnen lassen uns sofort entspannen. Kein Wunder, dass die Städte um das Mittelmeer mit ihren engen, dicht bevölkerten Fußgängergassen und nach außen geschlossenen Atriumhäusern erklärtes Vorbild vieler Stadtplaner sind. Die klare Trennung von Privatheit hier und Öffentlichkeit dort führt zu konzentrierter Geborgenheit diesseits und dicht bevölkerten öffentlichen Räumen jenseits der Mauern.

Die moderne, autogerechte Stadt mit ihrer Trennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit führt dagegen zu einem enormen Verlust von Aufenthalts- und Lebensqualität. In der Medina von Marrakesch fällt es leicht, miteinander ins Gespräch zu kommen, Nachbarn kennen sich. So könnte eine menschengerechte Stadt aussehen. Doch ein Besuch im Viertel der Gerber reißt mich aus meinen orientalisch-romantischen Träumen. Ich stehe mitten in einer bestialisch stinkenden Vorhölle. Taubenkotsäurebäder machen die Häute weich. Die Arbeit hier ist hart und macht krank. Was veranlasst Menschen, ihr Leben in so elenden Verhältnissen zu verbringen? Das Länderinformationsportal hilft mir weiter: „Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Marokko bei über 50 Prozent. Arbeitslosenhilfe gibt es nicht. Aber auch für die, die Arbeit haben, ist die Lage oft schwierig. Millionen Marokkaner können von ihrer Arbeit nicht leben.“

4.000 Taxifahrer gibt es in Marrakesch

Ich lerne Hannah kennen. Sie ist eine von nur zwei Taxifahrerinnen und arbeitet ausschließlich für Touristen. Einheimische Frauen fahren kein Taxi und Kerle steigen hier in kein Auto mit einer Frau am Steuer. Im ehemaligen Industriegebiet sind mittlerweile geschlossene Designerläden zu besichtigen. Im April 2011 starben bei einem Terroranschlag auf ein Café am Djemaa el Fna 17 Menschen. Danach blieben die Touristen aus und das Geschäft brach ein. Die Armut der Bevölkerung steht dem immensen Reichtum einiger Weniger gegenüber. König Mohammed VI. ist laut Forbes einer der zehn reichsten Monarchen der Welt. Dazu nochmal das Länderinformationsportal: „Seit er 1999 den Thron übernahm, soll er sein privates Vermögen mindestens verfünffacht haben. Mit geschätzten 2,5 Milliarden US-Dollar liegt er schon vor den Herrschern aus Katar und Kuwait. Vom Königshaus dominierte Holdings kontrollieren Rohstoffe, Banken, Versicherungen, die Lebensmittel- und Bauindustrie.“

Partizipation

Marokko ist somit geprägt von extremen sozialen Ungleichheiten und einem politischen System, das Partizipation nur in sehr engen Grenzen zulässt. Amnesty International berichtet von Folter. Proteste werden gewaltsam aufgelöst. Es gibt keine freie Presse, Minderheiten und Regierungskritiker werden verfolgt und inhaftiert. „The Economist“ stuft in seinem Demokratieindex Marokko als autoritäres Regime ein.

Sehnsuchtsort Europa

Während des Spaziergangs durch die Souks ist immer wieder ein begeistertes Raunen zu vernehmen. Auf ihren Smartphones verfolgen viele Händler die spanische Primera División. Europa erscheint dabei als gut vermarkteter Sehnsuchtsort. Am Ende des Abends gewinnt Barcelona acht zu null.

Das Gegenteil zu der 800 Jahre alten Medina von Marrakesch ist eine völlig neue Stadt. Seit 2008 wird nach den Plänen von Norman Foster in Abu Dhabi Masdar City gebaut. Deren Ziel lautet: kein Kohlendioxid, kein Abfall, keine Autos. Doch die ideale Stadt gibt es nicht. Und wenn es sie gäbe, wäre sie keine Retortenstadt in der Wüste. Großartige Städte sind superferente Städte: vielfältig, widersprüchlich, aufregend, inspirierend und roh wie Marrakesch. Aber über die historischen Formen hinaus gehört auch eine emanzipierte Zivilgesellschaft dazu, mit innovativen Unternehmen, die Arbeit bieten, und mit neugierigen Menschen, die mit Toleranz für Andersdenkende die Plätze auch nutzen, um für ihre Rechte zu demonstrieren. Von alldem sind Masdar und Marrakesch noch entfernt.

Doch es gibt auch Hoffnung

Während der arabischen Aufstände 2011 zogen auch in Marokko wütende Demonstranten auf die Straße. König Mohammed VI. ließ die Proteste teils niederschlagen, kam den Kritikern jedoch auch entgegen. So ließ er eine neue Verfassung ausarbeiten.

Fatima Zahra Mansouri ist als erste Frau in Marokkos Geschichte Bürgermeisterin einer Millionenstadt. Ein Ethikrat soll die Vetternwirtschaft eindämmen. Seitdem sind die Einnahmen von Marrakesch um 40 Prozent gestiegen. Sie investiert in Infrastruktur und Stadtplanung. Durch beständigen Zuzug von Menschen aus noch ärmeren Gegenden ist rund um die Oasenstadt in den letzten Jahrzehnten ein Gürtel von Slums entstanden. 34 von ihnen werden jetzt in Wohngebiete mit städtischer Infrastruktur umgewandelt. Die Bewohner erhalten Land, auf dem sie sich neue Häuser bauen können. Die Behörden sorgen für die in Marokko erforderliche Infrastruktur: eine Moschee, einen Markt, Brunnen für Mensch und Tier, einen Hamam, Backöfen für Brot und öffentliche Toiletten. Wenn die Gesellschaft in Ordnung ist, dann werden auch die Städte in Ordnung sein. Stadt und Gesellschaft sind miteinander verwoben.

Städte sind Abbilder ihrer Gesellschaften

Zurück in Berlin staune ich über eine Stadt, die sich in den letzten drei Jahrzehnten gut entwickelt hat. Liegt es an der hiesigen Arbeitsmoral? An der Religion? Dem Klima? Den Politikern? Was hat diese Entwicklung vom Guten zum Besseren und noch Besseren ermöglicht?

Um es vorwegzunehmen: Es sind die hiesigen inklusiven Institutionen einer offenen, pluralistischen Gesellschaft. Dass das so ist, lässt sich auch dort erkennen, wo genau diese Institutionen fehlen. Heute wissen wir so viel mehr über erfolgreiche Städte und ihre Planung als noch in den 60er und 70er Jahren. Auch wenn zunächst einfach ein Dach über dem Kopf gebraucht wird – es geht darüber hinaus um Orte für die inklusive Gesellschaft. Um Plätze, die offen sind für unterschiedliche Gruppen und Teilhabe ermöglichen. Es geht um eine gesellschaftliche Vision, um Orte und Räume für die durchmischte, pluralistische, gerechte Gesellschaft.