Die Unsinnsspirale

Die Unsinnsspirale

Kolumne von Eike Becker, "Immobilienwirtschaft" 09/2014

Haus der Zukunft: Zu hinterfragen sind steigende Ansprüche und immer perfektere Standards. Die Bauindustrie will immer komplexere und damit teurere Produkte verkaufen. Eine Unsinnsspirale!

Die etwa dreißig chinesischen Besucher sind sprachlos im neuen „Effizienzhaus Plus“ mit Elektromobilität – Vorzeigeprojekt des BMVBS, Teil der Forschungsinitiative Zukunft Bau. Es soll in der Fasanenstraße 87, Berlin, zeigen, dass ein Gebäude in der Lage ist, sich und seine Bewohner sowie zwei Elektrofahrzeuge allein aus regenerativen Energien zu versorgen. Ein Experiment auf 147 Quadratmetern Nettogrundfläche für zwei Millionen Euro Baukosten (13.605 Euro pro Quadratmeter NGF). Die Projektkosten werden mit sechs Millionen Euro angegeben.

Ernüchternde Messeergebnisse

Sehr ehrlich erläutert die charmante Führung die ernüchternden Messergebnisse, nachdem die Testfamilie Welke/Wiechers 15 Monate lang das Haus be-wohnt hat. Anstelle von prognostizierten 9.600 Kilowattstunden erzeugte das teure Energiesystem nur 900 Kilowattstunden pro Jahr. Auch war der Energieverbrauch nicht 7.000 Kilowattstunden pro Jahr, wie prognostiziert, sondern 12.400 Kilowattstunden. Eine Erklärung wird gleich mitgeliefert: Ohne Windfang wird bei jedem Ein- und Austritt die im dunklen Berliner Winter mühsam erzeugte Wärme rausgesaugt. Auf Fussballerisch: Zur Halbzeit steht es trotz teurer Neuverpflichtungen 0:4. Kann es sein, dass hier die Aufgabe mit zu viel Geld, Technik und Perfektion, aber umso weniger Praxisbezug angegangen worden ist? Was mir aber sehr gefällt, ist die wissenschaftliche Redlichkeit und Präzision, die dem Projekt seine Berechtigung verleiht. Genau das hat die Besucher aus China in ungläubiges Staunen versetzt. Dort ist der Interessierte nur selten einer der-artigen Helden stürzenden Ehrlichkeit ausgesetzt.

Ganz anders der Vortrag des Helden selbst, der als Architekt, Tragwerk- und Haustechnikplaner dieses Haus entworfen hat. Bei seinem eloquenten Vortrag vor Vertretern der Immobilienwirtschaft im Rathaus von Stuttgart hätte die Realität auch nicht zu der weltweit vermarkteten Blitz-blink-Supergeschichte gepasst.

Es geht um Visionen

Aber um genau diese Redlichkeit und Bescheidenheit geht es bei diesem Thema, das so viel größer ist als dieses Haus. Es geht um eine Vision, die das Land in den kommenden Jahrzehnten sehr verändern wird. Dazu gleich mehr. Am vergangenen Samstag habe ich das Albert-Einstein-Sommer-Holzhaus in Caputh besucht. Er hat dort von 1929 bis 1933 gelebt. Wie in Kanada, nur um die Ecke. Das Holz scheint für die Ewigkeit gemacht. Vom später berühmten Architekten Konrad Wachsmann geplant, wurde es als Fertighaus vor 85 Jahren innerhalb von zwei Wochen zusammengebaut. Ab und an soll der Kamin gebrannt haben. Ein frühes Beispiel für ein Haus ohne nennenswerten Energieverbrauch. Doch nur als Sommerhaus, mit einem Standard, der heutigen Erwartungen an Behaglichkeit, Schallschutz, Komfort und Mobilität nur noch bedingt entspricht: sehr warm im Sommer, zu kalt im Winter. Schade, aber ein Zurück in die romantische Vergangenheit ist uns durch unsere deutlich gestiegenen Ansprüche und erhöhten Standards verwehrt.

Also, um was geht es?

Unter den führenden Wissenschaftlern herrscht weitgehend Einigkeit. Um unsere Lebensgrundlagen zu bewahren, muss der Klimawandel gebremst und die globale Temperaturerhöhung auf zwei Grad Celsius gegenüber vorindustriellen Zeiten begrenzt werden. Der Ausstoß an klimaschädlichen Treibhausgasen muss dafür global um 80 Prozent gegenüber 1990 sinken. Die Industrieländer müssen ihre Treibhausgase bis 2050 sogar um 95 Prozent reduzieren. Eine Studie von Prognos, Öko-Institut und Dr. Ziesing im Auftrag der Umweltschutzorganisation WWF von 2009 zeigt, dass der geforderte Wandel von der klimaschädlichen zur klimaverträglichen Wirtschaftsweise möglich und sogar bezahlbar sein kann. Die Kosten der Transformation sind dort mit 0,3 bis 0,6 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts noch relativ überschaubar und leistbar angegeben. Wenn das stimmt, könnte Deutschland dabei zum Entwicklungsmodell für andere Länder werden und diese mitziehen. So die Theorie. Um also das ehrgeizige Ziel zu erreichen, müssen alle Sektoren ab sofort deutliche Minderungsbeiträge erbringen. Die Stromerzeugung, der Gebäudesektor, der Verkehr, die Abfallwirtschaft, die Landwirtschaft und die Industrie sind dabei zentrale Handlungsfelder. Jedes für sich genommen bereits gigantisch komplex.

Schauen wir auf den Gebäudesektor

Ab 2021 dürfen in Europa entsprechend der EU-Gebäuderichtlinie von 2010 nur noch Niedrigstenergie- oder Nullenergie-Neubauten errichtet werden. Die Bundesregierung strebt das klimaneutrale Gebäude an. Bis 2050 soll auch der gesamte Bestand entsprechend saniert sein. Für die Immobilienwirtschaft bedeutet das eine Innovationswelle nach der anderen. Seit der ersten Energieeinsparverordnung von 2002 haben sich die energetischen Anforderungen im Neubau und Bestand kontinuierlich verschärft. Im Mai dieses Jahres trat die erneut novellierte Energieeinsparverordnung in Kraft.

In Deutschland gibt es laut Angabe des Statistischen Bundesamts 41 Millionen Wohnungen. Von 2009 bis 2013 sind keine 400.000 Wohnungen neu gebaut worden. Im Jahr 2013 entstanden 225.000 neue Wohnungen. Bundesbauministerin Barbara Hendricks gibt einen Neubaubedarf von 250.000 Wohnungen pro Jahr an. So oder so werden deutlich weniger als ein Prozent des Wohnungsbestands im Jahr neu gebaut. Das bedeutet, dass wir uns mit dem Bestand beschäftigen müssen. Doch auch hier liegt zurzeit die Sanierungsrate bestehender Gebäude lediglich bei ein Prozent! Ohne Förderprogramme zur Gebäudesanierung dürfte nicht viel mehr gehen, meinen die Spezialisten.

Zentrale Stellschraube im Bereich Wohnen und Gewerbe ist der Raumwärmebedarf. Dieser kann durch bauliche Maßnahmen nahezu auf null reduziert werden. Aber was passiert bei der nächsten Sanierung mit der häufig hochgiftigen und als Verbund Baustoff schwer zu recycelnden Wärmedämmung? Die hierfür geeigneteren Materialien sowie weiterentwickelte wassersparende Armaturen, Magnetkühlschränke oder wasserlose Waschmaschinen sind heute noch nicht erfunden.

Vision für die ganze Gesellschaft

Zu hinterfragen sind die kontinuierlich steigenden Anbieter- und Nutzeransprüche. Auch die nach immer größerer Perfektion strebenden Standards. Und die Entwicklung zu immer mehr Technik. Wie die Autoindustrie will die Bauindustrie immer komplexere und damit teurere Produkte verkaufen. Eine Unsinnsspirale, die der Gesellschaft riesige Lasten aufbürdet!

Der Atomausstieg, die Energiewende und die radikale Reduktion des Kohlendioxidausstoßes sind in Deutschland eine Vision für die ganze Gesellschaft. Kein hochindustrialisiertes Land auf der Erde hat sich solche ambitionierten Ziele gesetzt. Naturgemäß kennt noch keiner die Wege zu den Zielen, geschweige denn den besten Weg. Umso wichtiger ist ein ehrlicher und bescheidener Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse.

Ein ganzes Industrieland ohne Kernkraft und klimaneutral! Ein Bogen, eine Klammer, die einem ganzen Land und damit Milliarden und Milliarden von Entscheidungen Richtung und Orientierung geben kann. Die Immobilienwirtschaft ist dazu aufgefordert, diese Aufgaben aktiv anzunehmen und bei der Erarbeitung der Lösungen mit Redlichkeit und Verantwortungsbewusstsein mitzuwirken.