Sprecht doch miteinander

Sprecht doch miteinander

Kolumne 10/2015

Die Sorge vor unvorhersagbaren Ergebnissen von Bürgerbeteiligungen ist groß. Doch nur wer sich auf den erhöhten Kommunikationsbedarf einlässt, kann in diversifizierten Stadtgesellschaften erfolgreich sein.

Der Raum ist überfüllt, das Licht grell, die Luft stickig. Durch den geöffneten Fensterspalt zieht eiskalte Winterluft herein. Im Stadtplanungsausschuss des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg drückt die Anspannung Beulen in die 70er-Jahre-Decke. Ein Projekt nach dem anderen wird zur Vorstellung gebracht. Und zur Wiedervorlage bestimmt. Die Wortführer der diversen Fraktionen finden immer noch hämischere Empfehlungen für die Vortragenden, die wie Bittsteller ihre zerrupften Projekte wieder einpacken dürfen. Fachleute können sich mit Belegen ihrer Kompetenz kaum Gehör verschaffen. Warum anstrengend entscheiden, wenn man so schön polemisieren kann?

Wer hat es nicht schon erlebt, wenn der Wille zum Verstehen abhandenkommt und Opportunismus das Maß für politisches Handeln wird?! Divergierende Interessen prallen mit Wucht aufeinander und müssen in langwierigen Verfahren immer und immer wieder verhandelt werden.

Wie sich unsere Städte weiterentwickeln, welcher Wille sich in baulicher Substanz manifestiert, geht viele an

Lange vorbei sind die Zeiten, in denen Werner Grundstücksbesitzer und Rainer Bürgermeister nahezu allein entscheiden konnten. Denn die Stadt gehört auch Selim aus dem SO 36. Deshalb ist es für den langfristigen Erfolg entscheidend, dass sich unterschiedliche Gruppen engagieren und ausreichend Gelegenheit haben, sich einzubringen. Darum muss Neues immer wieder neu verhandelt werden. Offene, inklusive Gesellschaften gehen diesen Prozess aktiv an.

Waren die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik geprägt von wenigen und zumeist in den politischen Parteien organisierten Interessengruppen, sind die Verhältnisse heute deutlich unübersichtlicher. Die Linien verlaufen fließend. Tausende von Lobbyisten, Vereinigungen und Bürgerinitiativen ringen um ihre Interessen und versuchen auf allen politischen Ebenen Einfluss zu gewinnen. Höhere Ansprüche und deutlich divergierende Bedürfnisse führen zu immer langwierigeren Entscheidungsprozessen.

Doch wie die Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Daron Acemoglu und James A. Robinson in ihrem Buch „Warum Nationen scheitern“ an vielen Beispielen durch die Zivilisationsgeschichte hinweg aufzeigen, ist gerade der Grad der Einbeziehung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen in wirtschaftliche und politische Entscheidungen der Innovationsmotor, der eine Spirale zum Guten, Besseren und noch Besseren in Gang setzt. Das sorgt dafür, dass Vorhandenes immer wieder in Frage gestellt wird und Innovationen umgesetzt werden. Deshalb führt der Wettbewerb unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen zu genau der Dynamik, die nach immer wieder besseren und ausgewogeneren Lösungen strebt.

Die Erhöhung der Lebensqualität in vielen Städten

in den letzten 25 Jahren ist genau darauf zurückzuführen, dass sich immer mehr Personen in den Prozess der Stadtplanung einbringen. Seit Mitte der 90er Jahre hat sich beispielsweise die Zahl der kommunalen Plebiszite verdreifacht. Bürgerbeteiligungen sind zu einer kraftvollen Bewegung geworden, die kaum ein politischer Mandatsträger ignorieren kann. In Deutschland ist in der Bauleitplanung eine zweistufige Bürgerbeteiligung rechtsverbindlich vorgeschrieben (zu Beginn des Verfahrens als frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung und gegen Ende als öffentliche Auslegung vor der Abwägung und der abschließenden Beschlussfassung). Verfahrensfehler führen schnell zur Verfahrensaufhebung.

Informelle, darüber hinausgehende Bürgerbeteiligungen sind nicht gesetzlich vorgeschrieben, jedoch zunehmend politisch gewollt. „Die Legitimität ist ‚diskursiv‘ geworden. Sie kommt häufig nur auf dem Wege der wechselseitigen Überzeugung und des Aushandelns zustande“ (Deutscher Städtetag).
Handbücher und Leitlinien für eine jeweils lokale Beteiligungs- und Planungskultur sind noch recht jung und befinden sich in der Erprobungsphase.

So genannte Bürgerdialoge, Konsensforen und Runde Tische involvieren Bürger- und Protestbewegungen in die Entscheidungsprozesse, jedoch häufig, ohne dass diese tatsächlich etwas mitentscheiden können. Gerade diese mangelnde Verbindlichkeit und Intransparenz sind häufig vorgetragene Kritik.

Trotzdem führt die Zusammenarbeit mit interessierten Bürgern zu einem Einblick in die Bedürfnisse und Meinungen unterschiedlicher Gruppen und das Wissen der Menschen vor Ort in der Regel zu verbesserten Planungen. Schon der Zwang für die Investoren und Politiker, ihre Projekte verständlich zu machen und um Unterstützung zu werben in der öffentlichen Diskussion mit den Gegnern des Projektes, führt in der Regel zu deutlichen Verbesserungen.

Doch wenn sich immer mehr gesellschaftliche Gruppen herausbilden und mit Selbstbewusstsein Gehör verschaffen, erhält der Wille zur Mediation, zur Vermittlung und konsensualen Entscheidung zwischen den Interessengruppen eine immer wichtigere Bedeutung.
Es ist offensichtlich, dass sich diese gesellschaftliche Dynamik noch nicht ausreichend im politischen System wiederfindet. Wer kann nicht davon berichten, dass Lagerdenken, Totalopposition, Intransparenz und Unverbindlichkeit wesentliche Entscheidungen verzögert oder verhindert haben? Vieles geht zum Verzagen langsam. Denn wenn nicht alle an Bord sind, verlässt das Schiff den Hafen nicht.

Auf dem Weg zurück in die Urbanität werden die Konversionsräume entdeckt 

Ehemals industriell oder verkehrstechnisch genutzte Räume, frei gewordene Brachen, mitten in den Städten. Niedrigschwellige Möglichkeitsräume zur Erprobung von gemeinsamem Handeln.

Der Park am Gleisdreieck in Berlin wurde zwischen 2009 und 2014 gebaut und verkörpert einen neuen Typus des öffentlichen Raumes. Von Anfang an wurden die Bürger über Umfragen, Online-Dialoge, Veranstaltungen und eine prozessuale Bürgerbeteiligung in den Planungsprozess eingebunden und auch nach Fertigstellung weiterhin involviert.

Heute vereint der Park multifunktionale Sport- und Spielbereiche, Liegewiesen, Sonnenterrassen, Sandflächen, Gärten im Garten, Allmendeflächen, Projekt- und Gemeinschaftsgärten, einen Platz für Konzerte, Theater und andere künstlerische Aktionen, Skateanlagen, einen Outdoor-Pool, Relikte der ehemaligen Industriekultur, den Interkulturellen Rosenduftgarten, einen Naturerfahrungsraum, ein Bienengärtchen mit einem Marktplatz und einem Café.

Auf vielfältige Weise sind hier durch die Kommunikation und den interaktiven Austausch zwischen Nachbarn, Bürgern, Planern und Politikern Orte entstanden, die die Kommunikation und den interaktiven Austausch zwischen Nachbarn, Parkbesuchern und Kleingärtnern befördern.

Dabei gehen Argumente wie „Demokratie üben“ oder „Politikverdrossenheit abbauen“ am eigentlichen Thema vorbei. Gerade in Deutschland ist die Sorge vor unvorhersagbaren Ergebnissen von Bürgerbeteiligungen und Verfahrensblockaden besonders groß. Doch nur diejenigen, die sich auf die wachsende Dynamik und den deutlich erhöhten Kommunikations- und Abstimmungsbedarf einlassen und zur Qualifizierung ihrer Vorhaben nutzen, können in den diversifizierten Stadtgesellschaften erfolgreich sein.

Irgendwann sicher auch im Stadtplanungsausschuss von Friedrichshain-Kreuzberg.