Superferenz

Superferenz

Kolumne von Eike Becker, "Immobilienwirtschaft" 03/2016

In vielen Dimensionen denken, statt nur an der Oberfläche, so wandelt sich die Gesellschaft. Und erfolgreiche Städte werden zu Spiegeln dieser Veränderungen: vielfältig, widersprüchlich, superferent.

Während ich bei meiner wöchentlichen Runde, vorbei an der Säule mit dem goldenen Hirschen, in den Volkspark Schöneberg biege, beginnt es wieder zu regnen. Schön sind im Vorbeilaufen die von den Regentropfen in Bewegung gesetzten Wellenringe auf den Pfützen. Wo die Wellenringe aufeinandertreffen, sind ihre Überlagerungen gut zu sehen. Schnell wachsen die Pfützen. Ich muss im Laufen schon über die ersten springen. Nach etwa zwei Kilometern schüttet der Regen vom Himmel. Der Wolkenbruch weicht die Wege auf. Das Platschen scheint mit der Harmonie der ersten Wellenringe nichts mehr gemein zu haben. Auf dem Wasser lösen neue Formen eben noch neue Formen ab. Nass komme ich zu Hause an. Und habe etwas kapiert.

Paradigmenwechsel

Mir wird klar, dass die Ringe und das Platschen auf der Wasseroberfläche ein eindrucksvolles Bild für genau den Paradigmenwechsel ist, den wir gerade erleben: Multidimensionalität statt denken in Oberflächen. Manchmal merken wir sogar in unserem täglichen Rennen, Raufen und Rudern, wie unsere Begegnungen immer widersprüchlicher werden und sich das, was wir erleben, zu immer differenzierteren Gebilden wandelt.

Wir stecken in einem Monsun polymorpher Ansprüche und spezifischen Wissens. Und wir spüren, wie – im ersten Moment ohne Ordnung – mal dieses mit jenem sich mischt, mal dieses an jenem sich stößt. Manche nennen das Interferenz. Die Steigerung der Erfahrung und Erkenntnis von Interferenz erkläre ich mir mit einem anderen, neuen Begriff: Superferenz.

Krisen und Visionen

Indem wir all diese Überlappungen, Überlagerungen und Durchdringungen wahrnehmen, uns auf sie einlassen, sie aushalten, riskieren wir, Gewissheit und Sicherheit im Leben und bei unserer Arbeit zu verlieren. Strategien, die zu puristischen und minimalistischen Lösungen führen, scheinen in ihrer Sehnsucht nach Harmonie und Einfachheit zu viel auszuschließen. Sie vermeiden, ja verdrängen diese Superferenz der Realität. Doch je mehr Regentropfen auf die glatte Wasserfläche fallen, desto reicher werden die Formen. Neues löst eben noch Neues ab: Wir brauchen Kreativität und Innovation.

Schon mit dem Beginn der Arbeit an einem Bauvorhaben gilt es, aus einem Meer von Möglichkeiten die entscheidenden zu finden. Städtebau, Grundstückslage, Grundstücksgröße, Himmelsrichtungen, Blickbeziehungen, Erschließung, Raumprogramm, Statik, Bauphysik, Haustechnik, Brandschutz und so vieles mehr konkurrieren und müssen auf ihre sozialen, ökonomischen und ökologischen Implikationen geprüft werden. Bei superferenten Gesellschaften, Unternehmen oder Bauvorhaben liegt über den Funktionen und Formen auch immer eine Idee, ein Konzept oder eine Vision von dem, wie es sein soll.

Superferente Strategien sind dadurch auch immer Eingriff und Störung. Sie blicken mit Wohlwollen auf die Welt, haben aber auch Freude am Anderen, Mut zum Verbessern und Neugierde auf das, was kommt. Die Naturgeschichte ist eine Aneinanderreihung von Störungen. Störungen als selbstverständlichem Teil des Systems. Auch der Mensch ist das Produkt von schier endlos aneinander gereihten Brüchen, Niederlagen und Krisen. Und seiner fortwährenden Verweigerung, diese zu akzeptieren.

Das zeigt auch Julian Rosefeldts grossartige Filminstallation Manifesto im Hamburger Bahnhof: Parallel laufende Filme bringen zornige, jugendlich und unerhört aktuell klingende Worte auf 13 Leinwände. Für jeden Film hat er historische Originaltexte aus zahlreichen Manifesten von Künstlern, Architekten, Choreografen und Filmemachern zusammengebastelt – darunter Texte von Filippo Tommaso Marinetti, Tristan Tzara, Kazimir Malevich, André Breton, Claes Oldenburg, Yvonne Reiner, Sturtevant, Adrian Piper, Sol LeWitt oder Jim Jarmusch.

Durch Kürzungen und Kombination von Texten verschiedener Autoren sind so 13 poetische Monologe entstanden, die Julian Rosefeldt mit den Arbeits- und Lebenswelten der Gegenwart verbindet. Verkörpert und vorgetragen werden sie von der australischen Schauspielerin Cate Blanchett.

Datenberge

Globalisierung, Urbanisierung und Individualisierung sind unser Leben noch auf lange Sicht bestimmende Entwicklungen, die eng zusammenhängen und sich verstärken. Superferenz wird durch diese Trends und die neuen Internetmedien raketenartig beschleunigt. Wir haben heute massive Datengebirge zur Verfügung. Anders als unsere Vorgänger. Big Data, also riesige Datenmengen, und Long Data, über Ewigkeiten gesammelte Daten, führen zu einem kolossal verbesserten Verständnis von den Welten, in denen wir heute und morgen denken und leben. Gapminder, der Human Development Index oder die Mega Trend Map vom Zukunftsinstitut mit 165 unterschiedlichen, momentan aktiven Trends, zeigen jedem Interessierten, wie komplex unterschiedlichste Entwicklungen miteinander verknüpft sind, ja, gerade erst dadurch halbwegs erklärbar werden.

Social Media

Connectivity, ein weiteres Zauberwort, betrachtet das Zusammenwirken von immer mehr Menschen und Organisationen, besonders über Internet und neue Medien. Konnektivität bezeichnet die neuen Organisationsformen der Menschheit in Netzwerken. Der technische Wandel ist bereits atemberaubend; die wahre Revolution liegt aber im Sozialen. „Der Trend öffnet Unternehmen und administrative Strukturen nach außen. Er wird die ganze Gesellschaft umformen,“ so das Zukunftsinstitut.

Es ist nötig, die Städte immer wieder an diese radikal veränderten gesellschaftlichen Bedürfnisse anzupassen. Durch die hohe Finanzkraft, die in die Städte fließt, gibt es die Chance, sie an die Bedürfnisse der turbomobilisierten, milliardenfach verbundenen Gesellschaften zügig anzupassen. Wir leben in über und über superferenten Zeiten, in denen Entscheidungsprozesse von heterogenen, pluralistischen Gesellschaften getroffen werden.

Erfolgreiche Städte

Großartige Städte sind deshalb nicht ideale Städte.Erfolgreiche Städte sind superferente Städte: vielfältig, widersprüchlich, vernetzt, aufregend, inspirierend, roh und kultiviert zugleich, reich an Geschichten und mit lebendiger Gegenwart. Und sie haben inklusive, für alle offene Institutionen. Mit pluralistisch konstituierter Verfassung, innovativen Unternehmen, bunter Architektur, kluger Stadtplanung, kreativen Menschen, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit, öffentlichen Plätzen für Flaneure, Passanten und Demonstranten. Eine großartige Stadt ist das Ergebnis von Milliarden mehr oder weniger abgestimmten Entscheidungen von sehr vielen unterschiedlichen Menschen.

Andere Welten

Die heutigen Ausgangsbedingungen haben sich dadurch radikal verändert. Deshalb sind völlig neue Strategien gefordert, bei denen Analyse und Empathie einander kreuzen. Es sind Methoden gefragt, die viel einschließen und Kontraste und Konflikte nutzen, um geschlossene Systeme zu öffnen und Widersprüchliches zusammenzuführen. Superferenz identifiziert die rivalisierenden Kräfte als die essenzielle Dynamik des Lebens.

Wir müssen gründlicher hinsehen, zuhören, forschen und verstehen, um die immer differenzierteren Welten und immer enger verbundenen Gesellschaften, Organisationen und Personen richtig zu verstehen. Erst auf dieser Grundlage kann eine Vorstellung von dem, wie es sein soll – das heißt: eine Vision für die jeweilige Aufgabe - aus endlosen Möglichkeiten den Strom bilden, der alles in eine Richtung fließen lässt.