Die Kolumne. Eike Becker: Geh nicht gelassen

Die Kolumne. Eike Becker: Geh nicht gelassen 03/2025

Der Anruf meines Bruders kam unerwartet. Fünf Stunden später saßen wir zusammen am Bett unseres schwer atmenden Vaters. Unsere Kinder erzählten ihm von früher, liebevoll verbunden. In der folgenden Nacht wurde er ruhiger und seine Hände kalt. 

Gelassen, scheinbar friedlich. So nahe konnten wir uns schon lange nicht mehr sein. 

Bei all dem Rackern, Schieben und Schuften ist es leicht zu vergessen, dass wir sterblich sind. Kaum einem, der noch ein paar Jahre hat, ist das bewusst. Doch auch ohne Datum wird jeder relativ bald sterben. Eine so kolossal grausame Erkenntnis, dass sie schwer zu akzeptieren ist.

Die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod ist eine grandiose Idee, vielleicht die erfolgreichste der Menschheit. Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie sofort erfinden. Die Vorstellung von einem paradiesischen, vorbestimmten Leben, viel schöner, als auf Erden. Die Endlichkeit ist aufgehoben, see you later!

Die weniger Glaubensbegabten werden auf das hier und jetzt, auf den schmalen Streifen Gegenwart, ihre Erinnerungen und Absichten begrenzt. 

Auf der diesjährigen Architektur Biennale in Venedig wird sich der Serbische Pavillon am Ende der Ausstellung wieder aufgelöst haben. Die Fäden der luftig im Raum hängenden Strickarbeiten werden, wenn die Sonne scheint, von Spindeln Millimeter für Millimeter bis zum Ende der Ausstellung wieder aufgewickelt sein.

„Wo etwas verschwindet, gibt es Platz für neue Perspektiven. Das müssen wir wohl erst noch lernen“, sagt Jelena Mitrovi?, eine der Kuratoren.

Sie thematisiert die Zweifel vieler Architekten zwischen Verantwortungsbewusstsein und Verunsicherung. Wenn jedes Gebäude, aus welchem Material auch immer, klimaschädlich ist, muss Bauen aufhören. Punkt. Bauen muss einfach verschwinden. 

Auch für Patrik Schumacher, Direktor von Zaha Hadid Architects, ist die Architektur tot, gestorben. Für ihn haben sich die Architekten als intellektuell eigenständige und künstlerische Profession aufgegeben und überlassen Künstlern, Wissenschaftlern, Soziologen und Ingenieuren die Ausstellungswände und Podien. Vor lauter politischer Korrektheit fügen sie sich in eine gefährliche Handlungsunfähigkeit.

Ich kann ihn verstehen. Auch ich wollte als junger Architekt einfach nur aufregende Gebäude entwerfen. Aber im Laufe der Jahre wurden die Anforderungen an Gebäude und Städte immer ambitionierter und vielfältiger und immer mehr Wissen wurde nötig, um sinnvolle und hilfreiche Lösungen zu entwickeln. Heute kann ich mich nicht damit zufrieden geben, einfach ein formal schönes Gebäude zu entwerfen. Das allein ist schon schwer genug. Aber wir müssen viel mehr erreichen. Wir brauchen bessere Strukturen und Prozesse, nachhaltige Materialien und Energien, ja, ein kreislauffähiges Wirtschaftssystem. 

Mit dem Generalmotto "Intelligens. Natural. Artificial. Collective" schließt der diesjährige Generalkurator Carlo Ratti auch tatsächlich fast alles ein und nichts aus.

Und so bietet seine Biennale ein Knäuel aus Klimageräten in überhitzten Räumen, Wüstenhäusern mit Kondensationsnetzen, Wasserfahrrädern zum Losgondeln, Holzschnitzern aus Bhutan, plaudernden Robotern, Café aus Hafenwasser, Musik von Jean Michel Jarre, Spielen ohne Gegner, dampfenden Steinen und Gewächshäusern aller Art. Friedrich von Borries hat dieses Ausstellungswirrwar als „neoliberalen Zukunftsporno“ bezeichnet. 

Dylan Thomas beschreibt in seinem berühmten Gedicht „Do not go gentle into that good night“, wie verschwenderisch Menschen mit ihrem Leben umgehen. In der letzten Strophe ruft der Sohn den Vater auf, seine Tage zu nutzen und sich mit aller Kraft gegen sein Schicksal zu stemmen. Für Thomas ist es der Sinn des Lebens, nicht aufzugeben, sondern Einfluss zu nehmen und dafür zu kämpfen, dass diese Welt eine bessere wird.

Ein guter Rat auch für die Architekten heute. Diese Welt kann nicht so bleiben, wie sie ist. Aber Gelassenheit oder Verzagtheit sind keine guten Helfer.

Am Eingang des Deutschen Pavillons hat der Künstler Christoph Brech eine Glocke so gefilmt, dass im Video nur deren Klöppel unablässig hin und her schwingt. 

„Take responsibility - the time for action is now“ kann man im Pavillion lesen.