Am Morgen nach unserer Weihnachtsfeier, sitze ich am Frankfurter Flughafen und beobachte, noch leicht betäubt vom Glühwein, das geschäftige hin und her auf dem Rollfeld. Lauter erwartungsfrohe Kurznachrichten von Teilnehmern der Markterkundungsreise des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz prasseln auf mich ein. Gleich steige ich in den Flieger nach Riad.
Auf dem Bildschirm vor mir steht die Welt Kopf. Europa unten, Saudi-Arabien im Zentrum und Afrika oben. Perspektivwechsel.
Nach stundenlangem Flug über eine Leere aus Sand und Felsen taucht in der milden Abendsonne das erleuchtete Riad auf. Eine durch und durch geplante Metropole mit 8 Millionen Einwohnern. In den Sechzigerjahren lebten hier gerade einmal 150.000 Menschen.
Am darauffolgenden Vormittag erklärt uns der deutsche Botschafter in der Außenhandelskammer ein Land, wie aus 1001 Nacht. Die 36 Millionen Einwohner erleben gerade eine beispiellose Transformation, eine Revolution von oben: mit der Vision 2030 erfährt die junge Bevölkerung, was aus ihr in den kommenden fünf Jahren werden soll: „a vibrant society, a thriving economy and an ambitious nation.“
Gigaprojekte wie die futuristische Entwicklung Neom mit der vertikalen Stadt The Line oder touristische Attraktionen wie Diriyah sollen das Land aus der Abhängigkeit vom Öl in eine strahlende, nachhaltige Zukunft führen. Milliarden werden in Hightech, Megastrukturen und Sportevents investiert. Die Botschaft ist klar: Hier entsteht die schöne, neue Welt von morgen.
Hinter den PR-Videos ist Saudi-Arabien ein autoritärer Staat, dessen absolutistische Monarchie mit Entschiedenheit regiert. Mohammed bin Salman, der junge Märchenprinz, Macher und Epizentrum aller Initiativen, kann als ehrgeiziger und progressiver Modernisierer gesehen werden. Oder, wie es die Opposition im Londoner Exil tut, als skrupelloser Autokrat, der gegen Kritiker mit Macht vorgeht und die Presse zensiert.
Nach seiner Ernennung zum Kronprinzen im Jahr 2017 haben internationale Beratungsgesellschaften jeden Stein im Land umgedreht und die Potenziale aufgezeigt. Mit beeindruckender Konsequenz, atemberaubender Geschwindigkeit und politischer Kaltblütigkeit hat er dann einen der weltgrößten Public Investment Funds aufgebaut. Der besitzt auch Newcastle United und Teile von Uber, finanziert aber im wesentlichen den Aufbau des Landes.
Dabei geht es nicht nur um die prestigeträchtigen Kathedralen der Neuzeit. Sondern um Millionen von Wohnungen für die rasch wachsende Bevölkerung. Um den Aufbau einer zeitgenössischen Dienstleistungsgesellschaft, einer eigenen Autoindustrie, um Bergbau, Logistik, Schulen und Universitäten, die Bewahrung des historischen Erbes, Tourismus, Gesundheitspflege und vieles mehr. Mit einer Bevölkerung, die noch bis vor kurzem nicht über einen 4 Stunden Tag hinaus gekommen ist. In einer in weiten Teilen noch armen Gesellschaft, in der eine streng traditionalistische Form des Islam, der Wahhabismus, fest verankert ist und über Jahrhunderte mit den religiösen und touristischen Zentren, Mekka und Medina, nahezu die einzige Einnahmequelle bildete.
So radikale Veränderungsprozesse erfordern ständige Rekalibrierungen und ihr Ausgang ist offen.
Leider tut sich Europa mit der Konstruktion von Achsen des Bösen und immer neuen Schurkenstaaten leichter, als mit der mühevollen Arbeit an einem kooperativen und fairen Miteinander. Aber wer diesen Planeten wirklich retten will, muss an dieser einen, gemeinsamen Zukunftsoption arbeiten.
Julia Nordmann, Wirtschafts- und Klimareferentin an der Deutschen Botschaft, berichtet von „sich vertiefenden Beziehungen“, neuen Initiativen und einem angestrebten Handelsabkommen zwischen der EU und den Golfstaaten.
Die Saudis werben um ausländische Investitionen und Know-how. Ihre Argumente sind eine junge, wachsende Gesellschaft, Strompreise von einem Cent/kWh, Land ohne Ende, Baurecht in drei Monaten, unbegrenzte, finanzielle Mittel und „die beste Architektur der Welt“.
Und tatsächlich, Norman Foster, das dänische Büro BIG, die Niederländer, Zaha Hadid, Jean Nouvel, sie alle sind mit spektakulären Bauten und Projekten vertreten. Bei diesem Rennen tun sich die Deutschen mit ihren kleinteiligen Organisationen und ihren moralischen Zweifeln schwerer. Aber auch die sind konkurrenzfähig und finden Antworten, wenn sie erst einmal da sind.
Denn beide Länder stehen vor großen, völlig unterschiedlichen Aufgaben. Während das Königreich eine historische Transformation durchlebt, muss Deutschland seine narrative Krise überwinden und sich neu ausrichten. Zuversicht, Tatkraft und der Wille zur Veränderung sind Muskeln, die trainiert werden können.