Die Kolumne. Eike Becker: "Viva la Vida", erschienen in Immobilienwirtschaft 12/2022

Die Kolumne. Eike Becker: "Viva la Vida", erschienen in Immobilienwirtschaft 12/2022

In der Welt von heute steckt auch die von gestern und in der von morgen auch ein Teil von Heute. Angst vor den aktuellen Schrecken und Bedrohungen ist aber ein schlechter Ratgeber. Die Zukunft ist nichts für Tatenlose. Auch nicht für Eroberer. In der Hoffnung auf ein besseres Miteinander und ein gutes Leben im Einklang mit der Natur, habe ich einen Reiseführer in die Zukunft geschrieben. In Brüssel.

Heute ist der Grote Markt der zentrale Platz der Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Belgien. Vor 500 Jahren wurden hier noch Protestanten durch die Inquisition lebendig verbrannt.

Nach einer katastrophalen Bombardierung durch Truppen Ludwigs XIV. während des fast vergessenen 9-jährigen Krieges blieb nur noch das gotische Rathaus übrig. Die Reste der Gildehäuser wurden abgerissen und im neuen barocken Stil prächtig und goldglänzend wieder aufgebaut.

Autofrei wurde dieser „world’s most beautiful car park“ im Jahre 1971 nach harten politischen Auseinandersetzungen und einem Monate langen Sitzstreik vieler Bürger.

Heute winken Hochzeitspaare vom Balkon, als wären sie die Könige der Welt, und Touristen auf dem Platz fotografieren begeistert zurück. Geteilte Momente persönlichen Glücks, voller Optimismus und Zuversicht.

Zufälligerweise haben Talita und ich uns genau das Wochenende für unseren Vater Tochter Ausflug ausgesucht, an dem die Band Coldplay mehrere Konzerte in Brüssel gibt. Die Altstadt ist deshalb voller jugendlicher Leichtigkeit. In den Straßen sehen wir lauter aufgeregte Freundinnen und Mütter mit ihren Töchtern.

Wir lassen die bunte Partygesellschaft hinter uns, mieten Fahrräder und machen uns auf den Weg zum Atomium, dem zweiten Wahrzeichen Brüssels. Als uns nach einer halben Stunde ansteigender Wegstrecke locker, lässig zwei Elektrobikes überholen, wird uns klar, dass wir es uns deutlich leichter machen könnten.

Das Atomium wurde 1958 zur Expo als Symbol für das Atomzeitalter errichtet. Es strahlt heute wieder blitzblank renoviert. Die Brennelemente des kleinen Reaktors, der während der Weltausstellung dort stand, sind mittlerweile wieder in die USA zurückgebracht. Dort strahlen sie noch tausende Jahre weiter. Die Manifestation dieser Zukunftsidee trifft heute auf ein unbeschwertes Publikum, das sich diese historische Stätte als Spielgerät und Zeitvertreib angeeignet hat.

“… And I discovered that my castles stand

Upon pillars of salt and pillars of sand…”

Nur ein paar hundert Meter weiter schauen wir uns im Design Museum die Möbelklassiker der Moderne an. Hier sprüht alles nur so vor Zukunftsentwürfen in bunten Kunststoffen, PVC, Acryl und Metall, gestanzt, aufgeblasen, tiefgezogen. Ein Foto aus dem Jahre 1958 zeigt die „creators of contemporary american furniture“ in Anzug und Krawatte, mit blankpolierten Schuhen auf ihren Stühlen. "Photographed especially for Playboy: Alfred Hendrickx auf seinem Lounge Chair, George Nelson mit Zigarette auf seinem Bar Cart, Edward J.Wormley auf „a“ frame chair, Eero Saarinen mit Zigarre in seinem sexy womb chair, Harry Bertoia, auf diamond chair, Charles Eames ohne Ray mit dem Eames chair und Jens Risom auf seinem open armchair." Stolze Eroberer der Zukunft.

„I used to rule the world, …“

Ohne eine einzige Frau.

Auf unserem Rückweg in die Stadt lassen wir die Räder rollen und fahren einen großen Bogen durch den Parc de Laeken. In eleganten Kurven, hin und her, vorbei an lichten Laubwäldern, weitläufigen Wiesen und Teichen voller Seerosen, genießen wir die Sonne und den Fahrtwind.

"Viva la Vida!"

Diese Landschaft wurde vom belgischen König Leopold ll in einen Park mit Brücken, künstlichen Felsen und Tälern umgewandelt und großzügig der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

“… Listen as the crowd would sing

„… , long live the king“”

Auch der Freistaat Kongo gehörte zu seinem Privatbesitz, mit über 2,3 Mio. Quadratkilometern über siebzig Mal so groß wie das heutige Belgien. Unter seinem apokalyptischen Ausbeutungssystem wurden dort Millionen Menschen grausam misshandelt, ausgehungert, brutal verstümmelt oder ermordet.

„… I used to roll the dice,

Feel the fear in my enemy′s eyes…“

Wir fahren weiter zum Europäischen Parlament.

Brüssel ist der Hauptsitz der Europäischen Union. Einer der größten Wirtschaftsräume mit etwa 450 Millionen Einwohnern aus 27 Staaten, das ambitionierteste und hoffnungsvollste politische Projekt der Welt für mich.

Im Museum für europäische Geschichte und im Parlamentarium ist alles gut aufbereitet:

Die Anfänge aus dem Schutt des 2. Weltkriegs, die Erweiterungen der folgenden Jahrzehnte, die Öffnung der Binnengrenzen, nach dem Mauerfall der Aufbau im Osten, die Gründung der EU, der Euro, die Zusammenarbeit in der Innen-, Justiz-, Aussen- und Sicherheitspolitik sind enorme Erfolge für Länder, die sich über Jahrhunderte gequält, gehasst und bekämpft haben.

Doch durch die Finanzkrise (2007), die Flüchtlingskrise ab 2015 und vor allem durch das Brexit Referendum (2016), die Zunahme von rechtspopulistischen Nationalismen und jetzt den russischen Angriffskrieg ist der Prozess der europäischen Integration ins Stolpern geraten. Churchills Vision der Vereinigten Staaten von Europa scheint in weite Ferne gerückt.

Das schreibe ich als 60 Jähriger, in zehn Jahren müssen die klimaschädlichen Emissionen halbiert sein, dann bin ich 70, 2042 wäre ich 80, 2052 90.

„… One minute I held the key, …“

Auch das NATO-Hauptquartier befindet sich in Brüssel. Das mächtigste Verteidigungsbündnis der Erde bekennt sich in seiner Präambel zu Frieden, Demokratie, Freiheit und der Herrschaft des Rechts.

Eine gewaltige militärische Maschinerie, das Oberkommando einer Weltordnung, das mit den 700 Milliarden Dollar der USA alleine und 270 Milliarden der Europäer über die Hälfte der weltweiten Rüstungsausgaben verfügt.

„… Seas would rise when I gave the word…“

Unser Tag in Brüssel geht zu Ende und wir machen uns auf den Weg ins Restaurant Le Marmiton in der Galerie de la Reine. Auf der Speisekarte finden wir auch als Veganer etwas Leckeres. Wie zwei Drittel der jüngeren Generation, lehnt auch Talita die Massentierhaltung ab. Doch die Regierungen ignorieren immer noch deren ökologischen, sozialen und gesundheitlichen Folgen, obwohl die industrielle Fleischproduktion bereits jetzt die ökologischen Grenzen unseres Planeten überschritten hat und die Klimakrise bereits für viele Menschen weltweit dramatische Auswirkungen hat.

„… Next, the walls were closed on me…“

Wie bei den meisten in ihrem Alter ist gerade die Berufsentscheidung für Talita eine große Herausforderung. Die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt. Psychologie in Mannheim, Wirtschaft in Rotterdam, Politik in Frankfurt, Informatik, Pädagogik, alles ist irgendwie verlockend und sinnvoll. Auch das Architekturstudium ist für sie eine Option. Sie wird 2053 fünfzig Jahre alt sein. Wenn wir es richtig anstellen, in einer besseren und gerechteren Welt.