Die Kolumne. Eike Becker: "Post-Corona-Architektur", erschienen in Immobilienwirtschaft 04/2021

Die Kolumne. Eike Becker: "Post-Corona-Architektur", erschienen in Immobilienwirtschaft 04/2021

In der Orangerie in Kassel widmete die documenta X 1997 dem noch jungen Phänomen Internet eine Informations- und Kommunikationsplattform. 15 internationale Gruppierungen aus Künstlern, Aktivisten und Kritikern organisierten Performances, Lectures, Workshops und Pressekonferenzen. Ich hatte dafür die Einrichtung aus Wänden, Plattformen, Sofas, Tischen und Stühlen zum schnellen Umbau auf Rollen entworfen. Die spontan angelegte Versuchsanordnung steigerte sich bis zu dem Tag, an dem Christoph Schlingensief während der Performance Kommune X mit Sandsäcken vor der Tür solange „tötet Helmut Kohl“ per Megaphon auf die Sonntagsterrasse tönte, bis herbeigerufene Polizisten samt Schäferhunden die Barrikaden stürmten, ihn verhafteten und in Handschellen zur Wache abführten.

Krisen sind nicht vorhersehbar und werden relativ zueinander bewertet. Sie haben die Tendenz zur Eskalation. 

2019 haben wir den gesellschaftlichen Mehrwert einer Immobilie diskutiert, soziale Gerechtigkeit und CO2-Neutralität. Das geschah vor dem Hintergrund der beiden Monsterthemen unserer Zeit: der Klimakatastrophe und der Digitalisierung.

Heute kommt eine weitere Komponente dazu: Ähnlich, wie der Mensch durch Resilienz Lebenskraft und Widerstandsfähigkeit gewinnt, brauchen Gebäude neben vielen anderen Qualitäten zusätzlich Schönheit und Robustheit, die sie überdauern lassen.

Dieses Pandemiejahr hat die beiden großen Themen Digitalisierung und Dekarbonisierung beschleunigt.

Deshalb werden Gebäude nach Corona noch schneller klimaneutral und noch stärker von der Digitalisierung fast aller Lebensbereiche betroffen sein. Sie müssen robuster, langlebiger und deshalb auch flexibler gebaut werden. Damit sie auch künftige, noch unbekannte Krisen überdauern.

 

Plan B

Jede Nutzungsänderung ist für ein Gebäude eine echte Krise.

Wer ein Hotelgebäude besitzt oder während der Pandemie versucht hat, eine solche Immobilie zu finanzieren oder zu verkaufen, weiß, wie schwer das zur Zeit ist. Ein Gebäude mit lauter Betonwänden im Raster von 4,55 m und einer Deckenhöhe von 2,70 m kann schlecht in ein Kommunikationsbüro umgebaut werden. Im Frankfurter Europaviertel sind wir gerade dabei, ein Hotel Projekt mit bereits fertigbetonierten Untergeschossen in ein Bürogebäude umzuplanen. Wäre der Rohbau bereits weiter fortgeschritten, hätten wir alles wieder abbrechen müssen.

Ein Gebäude, das nicht umgenutzt werden kann, beispielsweise von Hotel zu Wohnen oder zu Büro, ist schlicht nicht flexibel genug und kann nicht an veränderte Bedingungen angepasst werden. Ein Plan B und C sollte deshalb von Anfang an mitgedacht werden. 

Nutzungsneutrale Tragwerke und Geschosshöhen machen Gebäude krisenfester und dauerhafter. Die robusten Gewerbehöfe des 19. Jahrhunderts sind ein gutes Beispiel für flexible, umnutzungsfähige Immobilien. Heute werden viele ihrer weiträumigen Etagen mit Begeisterung als Loftbüros, Galerien, zur Produktion oder zum Wohnen genutzt.

Je einfacher und robuster die Gebäude in ihrer Konzeption sind, desto vielfältiger sind ihre möglichen Nutzungen. Und desto krisenresistenter und nachhaltiger sind sie. 

 

Weniger Gebäudetechnik, mehr digitale Steuerung

Seit Jahren ringe ich bei jedem neuen Bauvorhaben mit der immer komplexer und teurer werdenden Technik. Weniger Technik, mehr Thermik nenne ich das. Bei jedem Projekt habe ich das Ziel, so wenig mechanische Gebäudetechnik einzubauen, wie es nur geht. Sie altert schneller, als die Gebäudesubstanz, führt zu hohen Wartungskosten, verbraucht bereits in der Herstellung viel Energie und gibt in der Regel noch CO2 an die Atmosphäre ab. Das Ideal ist demnach gar keine fest eingebaute, mechanische Gebäudetechnik. Immer mehr Vorgänge können über die ohnehin schon vorhandenen Smartphones vom Nutzer selber gesteuert werden. Zum Beispiel mit einer Erinnerung, wenn ich das Fenster öffnen sollte, weil der Sauerstoffgehalt im Raum gesunken ist. Wenn man so will geht es um eine vereinfachte Hardware und eine sich ständig weiterentwickelnde Software.

Hohe Räume, Speichermasse zur thermischen Stabilisierung, weit spannende Flachdecken mit Stützen und hochwertige Fassaden mit öffenbaren Fenstern können viel mechanische Technik ersetzen und trotzdem einen hohen Komfort bieten.

Und wie steht es mit dem baulichen Infektionsschutz? Gesundheitsimmobilien zeigen, wie auch andere Gebäude künftig geplant werden könnten. Hier arbeiten Architekten, Epidemiologen, Hygieniker, Materialwissenschaftler und Haustechniker interdisziplinär daran, Krankenhaus- und Pflegeimmobilien infektionssicherer zu machen. Zum Beispiel durch diverse Ein- und Ausgangsbereiche, antimikrobielle Fenstergriffe und Türdrücker, die auch mit dem Ellenbogen betätigt werden können, sowie weniger mechanische und dafür mehr digitale Technik. Die Forschungsprojekte stehen aber noch am Anfang. Und die Ergebnisse müssen in Relation zu ihrem Aufwand hinterfragt werden. Aber Bauherren sollten die disruptive Kraft der pandemisch beschleunigten Digitalisierung und Dekarbonisierung annehmen. Krisenresistentere Gebäude sind nicht nur ein Werbeversprechen.

 

Headoffice war gestern

Laut einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft haben zwei Drittel der Firmen nicht vor, ihren Beschäftigten nach der Coronakrise mehr Homeoffice als vor der Krise zu ermöglichen: Auch Unternehmen außerhalb der Immobilienwirtschaft tun sich noch schwer bei der Anpassung an die kürzlich veränderten Rahmenbedingungen. 

Trotzdem wird auch das Headoffice neu gedacht werden. Was einst die repräsentative Hauptverwaltung war, wirkt angesichts der selbstbestimmten Arbeitsweise im Homeoffice aus der Zeit gefallen. Effizient, dezentral und offener wird die zukünftige Arbeitswelt sein. In einer Mischung aus vielfältigen Angeboten werden nicht-territoriale Arbeitsplätze im Büro in Kombination mit dem Schreibtisch zuhause eine zentrale Position einnehmen. Bereits vor Corona konnten groß angelegte Umfragen die positiven Effekte autonomer Formen von Arbeit auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Leistung, Motivation und Wohlbefinden bestätigen.

 

Büros ohne Elektrokabel

Was bereits seit Jahren angekündigt wurde, dürfte bald tatsächlich Wirklichkeit werden: ein gutes WLAN Netz wird den Hohlraumboden mit der aufwändigen Elektroverkabelung ersetzen. Angesichts der rasanten Entwicklungen in der Akkutechnologie werden bald die Computer, Telefone und Leuchten batteriebetrieben sein und am Arbeitsplatz eine Stromversorgung überflüssig machen.

So können Schreibtische auf Rollen je nach Bedarf für Teamwork zusammengeschoben oder für Einzelarbeit mit flexiblen Trennwänden wieder separiert werden. Dann ist das Post-Corona Büro der Zukunft flexibel anpassbar an die unterschiedlichsten Bedürfnisse. Und damit auch an so manche Krise, die noch keiner vorhersehen kann.

Heutige Gebäude dürfen nicht für einen Zeitraum von 20 Jahren gebaut werden. Sie müssen für 200 Jahren gedacht sein. Deshalb sollten sie robuster und nutzungsflexibler werden, weniger mechanische Technik verwenden, die Digitalisierung endlich nutzen und den mobilen und selbstbestimmten Arbeitsweisen entsprechen. 

1997 auf der documenta X kannten wir weder Smartphones noch Social Media. Auch wenn wir uns angestrengt haben, die Zukunft vorauszudenken: Einiges hat sich anders entwickelt. 

Aber die Orangerie in der Kasseler Karlsaue hat inzwischen weitere vier Ausgaben der documenta beheimatet.

Sie hat mit ihrer robusten Einfachheit und Schönheit Jahrhunderte überdauert.